Briefe

In den nächsten Jahren werde ich offene Briefe formulieren und diese an die Politik oder auch andere gesellschaftliche Gruppen adressieren. Anlass, Inhalt, Takt, Häufigkeit, Adressaten und Auflage mögen sich ändern, das Vorhaben aber nicht. Die ersten drei Briefe, alle eigenhändig adressiert, an alle Frauen und Männer im Bundestag, an den Bundespräsidenten, der deutsche Teil im Europaparlament, dem Berliner Abgeordnetenhaus und Senat, sowie die Neuköllner Bezirksverordnetenversammlung. Erstaunlich Kommunikationsarm sind die Herrschaften schon, irgend einem einzelnen Bürger gegenüber. Auf gut dreitausend Briefe gab es eine handvoll Antworten.

Die nächsten Briefe können sie hier auf meiner Seite dann unter »Aktuell« nachlesen.

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Guten Tag sehr geehrte Damen und Herren

Es ist nicht einfach, der allgemeinen Politikverdrossenheit entgegenzuwirken. Ich arbeite als Künstler-Soziologe-Dadasoph seit Jahren mit künstlerischen Mitteln an einer Belebung der Demokratisierung unserer Gesellschaft. Immerhin, es kommt Freude auf beim Publikum und den Kollegen, ein so selten gewordenes Phänomen sehen zu können.

Ich bin gegen Revolution und für Evolution in gesellschaftlichen Prozessen. Ich halte unsere Demokratie für menschlich genug, dass sie noch einige Jahrzehnte eine desinteressierte Bevölkerung überleben kann. Vielleicht ist ja die »Gleichgültigkeit« dieser Gesellschaft auch ein Hinweis auf Stabilität unserer Demokratie.

Dennoch sollten Sie, sehr geehrte Damen und Herren, mehr Partizipation ermöglichen an der Gestaltung in diesem Land, und zwar angemessen an den Zeitressourcen, dem Bildungsstand oder Informationsstand unserer Bürger und Bürgerinnen. Es macht doch einen erheblichen Unterschied, ob jemand auf Grund seiner beruflichen Existenz an der Demokratie seinen Lebensunterhalt verdient oder ob er im allgemeinem Interesse der Erhaltung der Demokratie in sie eigene Mittel investieren muss.

Denken Sie doch bitte einmal darüber nach, ob nicht ein Bruchteil des Steueraufkommens Sachgebieten zufließen könnte, die von Bürgern und Bürgerinnen ausgewählt worden sind. Vielleicht gäbe ein Fragebogen, der dem Antrag für den Lohnsteuerjahresausgleich beiliegen könnte, Auskunft über diese Bürgerwünsche.

»Mehr Demokratie wagen« ist ja nach wie vor ein schöner Satz, aber den es gilt mit Leben zu erfüllen. Ich widme einen Teil meiner künstlerischen Arbeit dem evolutionären Prozess Demokratie. Dass ich als Dadasoph dabei nicht nur freundliche Kunst produziere, damit ist immer zu rechnen. Kunst ist Freiheitskampf, im Kopf und davor. Kunst soll helfen, die Welt zu gestalten. Kunst ist wie ein Werkzeug des Gärtners, den das Universum ruft. Kunst hat einen Bildungsauftrag. Kunst sucht in der Unendlichkeit von Form und Farbe nach Bildern, die Menschen begeistern, die sie berühren, die sie weiterbilden, die unser Leben bereichern. Kunst ist offen.

Ich freue mich, wenn ich Sie in meiner Ausstellung »Markethink« begrüßen darf.

Rainer Wieczorek, Berlin am 12.2.2005

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Guten Tag sehr geehrte Damen und Herren

Im März diesen Jahres hatte ich mit rund 1000 Volksvertretern dreier Parlamente kommuniziert, in der Absicht, dass man meinen Gedanken zur Kenntnis nimmt. Drei Antworten, das war der Mühe Lohn. Ich möchte Sie erinnern:

Sie »... sollten..., sehr geehrte Damen und Herren, mehr Partizipation ermöglichen an der Gestaltung in diesem Land, und zwar angemessen an den Zeitressourcen, dem Bildungsstand oder Informationsstand unserer Bürger und Bürgerinnen. Es macht doch einen erheblichen Unterschied, ob jemand auf Grund seiner beruflichen Existenz an der Demokratie seinen Lebensunterhalt verdient oder ob er im allgemeinem Interesse der Erhaltung der Demokratie in sie eigene Mittel investieren muss.

Denken Sie doch bitte einmal darüber nach, ob nicht ein Bruchteil des Steueraufkommens Sachgebieten zufließen könnte, die von Bürgern und Bürgerinnen ausgewählt worden sind. Vielleicht gäbe ein Fragebogen, der dem Antrag für den Lohnsteuerjahresausgleich beiliegen könnte, Auskunft über diese Bürgerwünsche.«

Und ich füge einen zweiten Gedanken hinzu. Es betrifft die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Finanzieren Sie doch einmal einige Pilotprojekte in der Art, das qualifizierte Gruppen von Arbeitslosen, bei laufenden Bezügen, (und vielleicht mit Unterstützung von Beschäftigungsgesellschaften oder anderer Fachkompetenz) den Auftrag bekommen eine Firma zu gründen, die sich nach einer Anschubfinanzierung, selbst trägt. Es können ja Experimentierprojekte oder gesellschaftlich sinnvolle Projekte mit vagen Erfolgsaussichten sein , für die sich der Rest der Wirtschaft erst interessiert, wenn der Erfolg da ist. Ich würde von solch einem Projekt erwarten, dass Pioniergeist, Empathie und Emotion unter den Beteiligten so stark anwächst, dass dies ausstrahlt in ihre Lebenszusammenhänge. Von solch einem Projekt soll auch wirtschaftlicher Erfolg erwartet werden und Impulse für mehr Wachstum in der Region. Ein krasses Gegenteil wäre hier immerhin ein selbstverantwortetes Scheitern, und das ist hier gefedert durch die Gruppe am Ende positiver zu bewerten als ein Scheitern im Kontext »anonymer Mächte«. Auch übt sich hier Gesellschaft in Richtung mehr Selbstständigkeit und Selbstverantwortung und im Bauen von neuen Wirtschaftszusammenhängen. Eine Chance geben, für ein »Arbeitslosenkollektiv«, das eine »Kollektivfirma« bildet, die im freien Wettbewerb sich behauptet.

Ich frage Sie, sehr geehrte Damen und Herren, was haben Sie zu verlieren? Eigentlich nichts! Der ganze Arbeitslosenmarkt dümpelt seit Jahrzehnten dahin, hat sich zu einem Selbsterhaltungssystem entwickelt, und wie überall in unserer Gesellschaft, mit der gegenwärtigen Tendenz, die öffentliche Geldknappheit so zu verteilen, dass viele arm werden, damit einige ihre Privilegien über die Zeit retten.

Ich persönlich rechne mit sozialen Unruhen. Die werden ebenso plötzlich da sein, wie ihrerzeit die Mauer dann sehr schnell verschwand.

Exportweltmeister zu sein, ist das eine. Die Steigerung der Quote an Verlierern im eigenen Land, ist das andere.

Vergessen Sie bei Ihrem »Globalisierungskampf« nicht unseren »Kindergarten«.

Rainer Wieczorek, Berlin, September 2005

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Sehr geehrte Damen und Herren

Einige von Ihnen werden sich vielleicht an meine letzten beiden Briefe an die politische Klasse im Land erinnern, es geht mir dabei immer um Teilhabe und Gestaltung am Land. Ich möchte Sie diesmal an unser aller verarmte Hauptstadt erinnern. Sie diskutieren ja darüber, ob Neukölln, wo ich seit gut 30 Jahren lebe, ein Slum ist. Die Neuköllner Altstadt ist Slumgebiet, es ist ein deutscher Slum. Die Verslumung finden sie überall in Berlin. Ihr hübschgebautes Regierungsviertel ist ja, als Bestandteil der Stadt, eher eine Fernsehkulisse. Die über die Stadt verteilten Investitionsflatschen wirken wie Fremdkörper und benehmen sich auch so.

Ich wohnte damals in einer Bruchbude mit Ofenheizung umgeben von alten grauen Häusern, zuversichtlich und friedlich. Gegen Armut kämpfend lebe ich jetzt in einem sanierten Haus, das vermüllt in einer vermüllten Gegend mit fließend warmen Wasser, zentralbeheizt und sehr viel teurer. In diesem hübsch sanierten Haus hat es in den letzten sieben Jahren fünf mal gebrannt. Wenn ich um den Block gehe, das dauert keine zehn Minuten und dann zusammenrechne, erinnere ich mich an mehr als zehn Brände im gleichen Zeitraum. Ich lebe in einem deutschen Slum, und es dauert noch einige Jahre, da wird es auch Schönrednern die Sprache verschlagen.

Es sollte eigentlich jeden Deutschen beschämen, das er aus einer verwahrlosenden Hauptstadt regiert wird. Kreative, Kleinunternehmer, Existenzgründer, Künstler sind die Imageträger in den Kiezen und die werden bedingt in Fröhlichkeit durchhalten. Es gibt keine Kaufkraft. Die öffentliche Hand, auch im Verbund mit Europageldern, fährt hier Dumpingstrategien. Die Jugend in den Kiezen hat so gut wie gar keine Chance. Arbeitslosigkeit in den Kiezen, um die 20 Prozent, mit einer politischen Tendenz, die immer sagt: »Könn´ wir nichts machen«. Armut breitet sich aus wie eine Krake. Wer am Existenzminimum lebt, wird durch die Steuer- und Abgabenpolitik im Verbund mit der Mietenpolitik in diesem Land mehr und mehr zum Sklaven derselben. Freiheit mit Würde wird hier abgeschafft.

Das ganz große Aushängeschild für Berlin, die Kreativen und Künstler, was tun Sie eigentlich für diese Bürger? Gerade Künstler arbeiten an ihren Ideen und Projekten, aufopfernd, selbstlos, um der Sache willen. Die Geldfrage, ihre zweitrangige Existenzfrage kommt später. Im wesentlichen existiert dieses riesige kulturelle Angebot in der Stadt, weil Künstler auf Vorschuss arbeiten. Finanzspritzen in dieses Mikrosystem dienen selten dem Lebensunterhalt, sind im wesentlichen Sachkosten und Verwaltungskosten. Für Verwaltungsstrukturen und Bürokratie, unsere vielzitierten »Sesselpupser«, da geben sie hemmungslos und auch immer wieder erfindungsreich mächtig viel Geld aus oder treiben es ein. (Z.B. »ab 1.1.2007 sollen Selbstständige, also auch Freie, für ihren PC die Fernsehgebühr in Höhe von 17,03 Euro zahlen«. Ich will kein TV und will auch kein schlechtes Niveau durch Zwang finanzieren.) Die Politik, die von Ihnen gemacht wird und wurde, beruht im wesentlichen auf Systemsicherung und nicht auf der Sicherung eines Gemeinwohls für die Menschen. In diesen »Schwarzen Löchern« verdienen mir zu viele »Schranzen, Hofdiener, Günstlinge und Verdienstvolle« des Staates und seiner Parteien ihr oft genug überhöhtes Einkommen. Den konkret betriebenen Unsinn können Sie viel besser beurteilen als ich. Hier wird das Private gefördert und sein Wohlstand erhalten, auf Kosten des Gemeinwohls und auf Kosten der Zukunft des Landes, seiner Städte und Gemeinden unter Ausgrenzung immer größer werdenden Bevölkerungsgruppen. Sie müssen in Ihren eigenen Reihen nachdenken, ökonomisieren und eigene schmerzliche Konsequenzen ziehen. »Kumpel und Klüngel« geht nicht mehr.

Neukölln hält jetzt her als Medienspektakel und für Wahlkampfpropaganda, die man vergisst bis Jahresende so wie auch das Sonderputzen für unsere Fußball-WM-Gäste. ›Slum‹ oder ›Problembezirk‹ sind rhetorische Instrumente. Unsere Städte verslumen und verwahrlosen in ihrer Gänze. Und die Jugend, die unser »Altersheim« dereinst versorgen soll, ich hoffe für uns alle, auch für Sie, dass die sich nicht »rächt«.

Rainer Wieczorek, Berlin April 2006