Ottmar Bergmann über Rainer Wieczorek
Pablo Picasso, der große Maler des 20. Jahrhunderts, sagt und schreibt: »Ich suche nicht, ich finde.« Rainer Wieczorek, der in seiner Person »Kunst und Leben« eng verwoben hat, ist ein Finder, Auffinder, Aufspürer. Der Begriff der »Erfindung« ist in der Bildenden Kunst der Moderne überbewertet und eigentlich auch falsch: Man sieht das auch an Deutschlands »arriviertestem« Maler Georg Baselitz. Er »erfand« Bilder, die auf dem Kopf stehen, man sagt, er habe diese Art »Kopfstand« kunstfähig gemacht. Aber als Erfindung ist das doch eher lächerlich und die übergroße Honorierung macht seine durchaus beachtenswerte Malerei zum aufgeblasenen Popanz. Doch dieser Malerfürst wohnt auf seinem Schloss, Rainer Wieczorek in der Flughafenstraße in Neukölln, mitten im Alltag der drittgrößten türkischen Großstadt; nur in Istanbul und Ankara gibt es mehr türkische Menschen. Hier in Berlin macht der Künstler seine Streifzüge, erweitert seine Erfahrungen, bereichert seine Kunst, indem er im wahrsten Sinne des Wortes aufgreift, was ihm zufällt, ihm begegnet, was er findet, mitnimmt, was ihm insbesondere für seine Kunst brauchbar erscheint. Es ist das Brauchbare und nicht das geldwert Nützliche, so wie Kunstwerke gestaltet und nicht am Fließband fabriziert sind. Seine Kunst soll durch Gestalten und Umformen das Normale, Genormte, das Abgenutzte, Verbrauchte zum Besonderen machen.
Kunst ist, wie Paul Klee sagte, die besondere Leistung. Und dies Besondere will Rainer Wieczorek in jeder Arbeit finden. Rainer Wieczorek, ein leidenschaftlicher Künstler, ist eigentlich »gelernter« Soziologe; er hat aber auch als Baufachwerker, Bühnenarbeiter, Gartenbauarbeiter, Schaufenstergestalter, Leitplankenmonteur, Fassadenmaler und Eternitschneider sein Geld zum Lebensunterhalt verdient. Im Handwerk und in der Industrieproduktion kennt er sich aus. Seine Liebe und Neigung gilt aber der pädagogischen Arbeit mit Kindern in verschiedenen Projekten. Er hält es für lebenswichtig, diejenigen Menschen, die durch den herrschenden kapitalismusorientierten Materialismus zu vermaßten Knöpfedrückern und Konsumenten bestimmt und verdammt sind, ein von anderen bestimmtes und vorgenormtes Leben zu akzeptieren, Selbstbestimmung und Individualität zu ermöglichen.
Was immer er auch in seiner Kunst macht, Rainer Wieczorek versucht darin ein Gleiches, nämlich den vorgenormten Dingen die Würde einer Eigenheit durch Verwandlung oder Transformation zu geben. Insofern ist für ihn Kunst auch Modell für Selbstbehauptung und individuelles Leben, natürlich findet er Klärung und ablesbare bildnerische Erkenntnis vor allem auch für sich selbst. Er arbeitet gegen den Verschleiß in der Wegwerfgesellschaft, er versucht aussortierte Dinge brauchbar und für sich und seine Kunst dienstbar zu machen. Der Raubbau weggeworfener Sachen führt ihm Farben und Malgründe zu, ihre verschiedene materielle Beschaffenheit zwingt ihn zu sorgsamem, sensiblen Umgang, zur Einfühlung in andere Beschaffenheiten. Rainer Wieczorek ist, wenn man es in der Art eines Schlagwortes kennzeichnen will, als Künstler und Mensch den Idealen der Französischen Revolution ›Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit‹ verpflichtet: Freie Menschen, freie Kunst, keinen gesellschaftlichen Normierungen und Eingrenzungen in ihrer Entfaltung und Wirkung unterworfen. Wenn Joseph Beuys sagt, jeder Mensch sei ein Künstler, so übersieht er dabei, dass doch die meisten Menschen nicht in der Weise zum Menschen entwickelt sind, der sie und ihr Leben zur Kunst machen könnte. Man muss ja erst einmal Mensch sein, die Geburt als Mensch macht einen noch nicht dazu, wenn das so wäre, gäbe es ja auch keine Unmenschen wie Hitler oder Ilse Koch, die als »Hexe des KZ Birkenau« sich noch nicht einmal auf die feige Ausrede des Befehlsnotstand berufen konnte: sie machte ihre Teufeleien freiwillig und aus eigenem Antrieb. Kunst kann helfen, dass der Mensch zum Menschen wird.
Die Berufung auf die französische Revolutionsideale Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit ist eigentlich einfach, aber in unserer heutigen Lebenswelt immer auch naiv. Jeder gute Künstler ist immer aber auch naiv. Nur die schlechten, schwachen sind durchtrieben, bauernschlau. Jedoch derjenige, der sich diese Unschuld rauben lässt, hat sich schon selbst verloren. Alle Angriffe auf sein Selbstverständnis, die Zwänge zum Selbstverlust, weist Rainer Wieczorek heftig, entschieden und phantasievoll zurück; auch er musste leider einsehen, dass dies ohne Kampf, Streit oder Auseinandersetzung nicht abgeht, ... und so sind seine Kunstwerke auch Zeugnisse einer Streitkultur der Diskussion und des Widerstandes gegen geforderte Anpassung, sie entsprechen so einer Ästhetik des Widerstands.
Rainer Wieczorek schafft und zeigt Malerei, Zeichnung, Skulptur, sie sind der Schönheit und dem Eigensinn gewidmet und gleichzeitig »gegen den Strich gebürstet.« Dazu kommt, dass sie in vielerlei Hinsicht auf heutige Gegebenheiten und Realitäten unserer gesellschaftlichen Umwelt reagieren, d.h., dass er sie erst einmal aufnehmen, erkennen und dann gestalten muss.
Rainer Wieczorek verdoppelt nicht die eh schon schlechte Realität, sondern er transformiert sie in einen anderen, besseren Zustand. Ihre Fremdheit, ihre Andersartigkeit, soweit bestimmte Realitäten so sind, dürfen sie behalten. Dieser Künstler ist kein Realist, aber auch kein wirklichkeitsferner Utopist. In seinen Werken ist die hemmende, strukturbestimmende Realität mit dem auf Befeiung gerichteten Gedanken der Utopie verwoben: es entsteht etwas Anderes, Drittes. Was Edward Munch so bezeichnet, dass ein Kunstwerk dem Weltganzen einen bislang nicht gedachten Gedanken hinzu füge.
Rainer Wieczorek hat einer Ausstellung ein Motto mitgegeben: »Vom Studium kleiner Unendlichkeiten«. Wäre dies eine Selbstaussage zum Schaffen des Künstlers, müsste es heißen: »vom Herstellen, Gestalten kleiner Unendlichkeiten«, wenn er »vom Studium« schreibt, zielt er auch auf sein Publikum, die Betrachter, die in seinen Arbeiten kleine, von ihm hergestellte Unendlichkeiten studieren können. Befreiung gelingt nur in kleinen Schritten mit Geduld, Phantasie und Einfühlung. Rainer Wieczorek malt und gestaltet nicht nur in seinen »heimischen Gefilden«, er nutzt jede ihm sich bietende Möglichkeit öffentlichen Auftretens, die er sich oft selbst schafft oder schaffen muss, zur eigenen Aktion, in der er sich Aufmerksamkeit für seine inhaltlichen Positionen erkämpft. Er hat etwas zu sagen und will auch gehört werden. Und wenn diejenigen, die im mainstream nur mitschwimmen, meinen, so was wollten sie nicht hören, dann verstärkt der Künstler seine künstlerischen Mittel. ... und so macht er denn seine Bilderausstellungen oft zum Ausgangspunkt für verschiedene andere weiterführende Aktionen.
Jedes Kunstwerk, jedes Bild, jede Zeichnung, jede plastische Arbeit, jede Aktion dieses Künstlers weist auf das Dasein von Rainer Wieczorek hin. Er sagt in ihnen: Ich, Rainer Wieczorek, ich bin da, oder war da oder werde da sein. Insofern verhält er sich wie das Trivialphantom berüchtigte »Kilroy was here«.
Menschen haben nur ein Leben und dieses Leben sollte für jeden optimal sein und darauf besteht der Künstler, dass alle und vor allem er selbst etwas von diesem großen Kuchen, den diese Welt bei sinnvoller und gerechter Nutzung, – die zu fordern Rainer Wieczorek nicht müde wird-, abbekommen können. Die Verstärkung der Daseinsbehauptung, des »ich bin da«, ist in seinen Augen eine Verdoppelung, nämlich das DaDa. Rainer Wieczorek bindet seine Arbeit bewusst an den Dadaismus, die Kunst- und Lebensbewegung nach dem ersten Weltkrieg, die Kunst- und Lebensbewegung nach dem ersten Weltkrieg. Dessen Techniken und Methoden haben große Bedeutung für ihn und sein Werk. Ihm ist daran wichtig, viele Dinge aus ihrem gewohnten Gleis zu heben, um zu sehen, wie es dann ohne festgelegte Richtlinien weiter läuft.
Er nennt sich auch »Dadasoph«, eine Verquickung von Dada und Philosophie, beide Methoden verbindet er, um zu neuen Ergebnissen zu kommen. Mit Berthold Brecht könnte man sagen: Erst Verfremdung, Aufhebung gewohnter Bewusstseinslagen, vorgesetzter Ansichten und Lebenshaltungen und dann darüber nachdenken, was man sinnvoll aus den Resten machen, welche wahren, gereinigten, befreiten und gerechten Verhältnisse man damit herstellen kann. Hierin ist er den Situationisten vergleichbar. Der Dadaismus hat sich auch auf das Kinderwort für Spiel- und Holzpferdchen »Dada« berufen. Veränderung dieser Welt kommt nur vom homo ludens, dem zweckfrei spielenden Menschen, der die gemachte Härte des Daseins spielend überwindet und verändert. Die Hinwendung zur Erfahrungswelt der Kindheit, Dinge neu und anders zu erleben und dadurch überraschend zu handeln. Seine Kunstwerke sind Modelle dieser Haltung, der Betrachter sollte das Spiel, den Spaß am Auffinden und Machen dieser Gebilde miterleben können. In ihnen trifft sich Freude am Spiel, am Dasein, an Veränderung und Überraschung, aber auch der Ernst, oft angstvoll in dieser heutigen Gesellschaft soll nicht geleugnet und überheblich beiseite gedrängt zu werden.
Vielleicht war Rainer Wieczorek, als er zur Kunst fand, naiv, als er glaubte, der Kunstbetrieb, der ja nur die arrivierte bildende Kunst, den neuzeitlichen Akademismus, fördert, sei auch für die unangepassten Produkte hilfreich vorhanden. Weit gefehlt: Heute werden da Erbhöfe verwaltet, systematisch werden unangepasste Produkte in die Subkultur abgedrängt. Die Zeiten sind vorbei, in denen bedeutende Künstler wie Picasso oder Dubuffet die Kunst anderer Kulturen und der sogenannten Subkultur als Bereicherung der modernen Kunst förderten, eine Gleichberechtigung gaben und sie sogar mit eigenen Geldmitteln unterstützten. Der offizielle, anerkannte Kunstbetrieb, zumindest in Deutschland, ist kunstfeindlich und behindert die Kunstproduktion derer, die er nicht anerkennt: also eher ein Kunstverhinderungsbetrieb.
Der offizielle Kunstbetrieb heute verhält sich zur bildenden Kunst wie der des degenerierten, späten 19. Jahrhunderts, in denen pompöse Kitschiers wie Makart, Lenbach, Anton von Werner, um nur wenige zu nennen, zu Malerfürsten hochgejubelt wurden. Nun, heute weiß Rainer Wieczorek, dass er, um Öffentlichkeit und Gehör zu finden, seine Gedanken zur Kunst und eigenen Produktion auf einer von ihm selbst gebildeten Bühne mit eigenem Publikum und mit eigener Strategie selbst gestalten muss und sich von dieser Grundlage ausgehend auch durchsetzen kann. Dem offiziellen Kunstbetrieb steht er zwar subversiv gegenüber, nutzt ihn aber, wo sich ihm eine Chance bietet. Von den arrivierten Kollegen, den Anpasslern, den lebensfremden »Sensibelästheten« oder denen, die der »Ramponage« scheinheilig frönen, hat er nichts als Zurücksetzung zu erwarten. Zu denen steht er in ehrenvoller Opposition und er kann hier in dieser Ausstellung berechtigt sagen: »Je suis un autre.« Das bedeutet nicht, dass sich Rainer Wieczorek so ohne Weiteres auf die Subkultur abdrängen lässt, schließlich will er auch ein Stück vom Kuchen haben. Mit seinem Widerstand gegen alle von Außen ihm aufgedrängten Katalogisierungen ist mit Sicherheit zu rechnen. Subkultur hin, Subkultur her, das sind alles Begriffe, die nur der Klärung für einen Augenblick, »als Brücke« dienen. Die Unbotmäßigkeit dieses Künstlers und seiner Kunst ist letztlich uninteressant für ein Publikum, das sich auf die Werke einlässt, sich in sie einsieht, Einsichten selbständig gewinnt und möglicherweise aus eigenem Antrieb unbotmäßig ist. Hier entscheidet das Vergnügen, die Freude an etwas überraschend Geschaffenem, an Lösungen, die man vom vorgegebenen Material, das Rainer Wieczorek irgendwo gefunden hat, nicht erwartet hat. In den Arbeiten von Rainer Wieczorek geschieht das Unerwartete, nicht das tausendste Bild, das auf dem Kopf steht. Natürlich will Rainer Wieczorek, dass sich die Betrachter im Zusammenhang mit seiner Kunst auch wohlfühlen. Natürlich freut er sich, wenn sich sein Publikum mit seiner Arbeit beschäftigt und wenn ihm eine Arbeit abgekauft wird, ist er glücklich, weil er dann weiter arbeiten, die Miete des Ladens, der Atelier und Lager zugleich sein muss, bezahlen kann.
Auch will Rainer Wieczorek, dass die Betrachter seiner Bilder, Zeichnungen und Plastiken und Rauminstallationen als Selbständige, Emanzipierte seiner Arbeit gegenüber stehen und beim Sehen und Erleben Erkenntnisse für sich selbst »herausziehen« können. Seine Werke sind freundschaftlich und offen den Betrachtern zugewandt, seine Bühne ist frei für »das Studium kleiner Unendlichkeiten«.
Ottmar Bergmann 2002/2007